22.12.2004
EuG - Beschluss des Präsidenten des Gerichts erster Instanz in Sachen Microsoft Corp.Media Player

Beschluss des Präsidenten des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache T-201/04 R Microsoft Corp. / Kommission der Europäischen Gemeinschaften

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS ERSTER INSTANZ WEIST DEN ANTRAG VON
MICROSOFT AUF EINSTWEILIGE ANORDNUNG ZURÜCK
Die von Microsoft vorgelegten Beweismittel reichen nicht aus, um glaubhaft zu machen, dass ihr aufgrund der Durchführung der von der Kommission angeordneten Abhilfemaßnahmen ein schwerer und irreparabler Schaden entstehen kann. Am 24. Mai 2004 erließ die Kommission eine Entscheidung, in der sie feststellte, dass Microsoft gegen Artikel 82 des EG-Vertrags verstoßen habe, indem sie mit zwei verschiedenen Verhaltensweisen eine beherrschende Stellung missbraucht habe. Außerdem verhängte die Kommission ihr gegenüber eine Geldbuße von über 497 Millionen Euro.
Die erste geahndete Verhaltensweise liegt in der Weigerung von Microsoft – von Oktober 1998 bis zum Erlass der Entscheidung –, ihren Konkurrenten bestimmte "Informationen zur Interoperabilität" zur Verfügung zu stellen und deren Nutzung für die Entwicklung und den Vertrieb von Produkten zu gestatten, die mit Microsoft-Produkten auf dem Markt der Betriebssysteme für Arbeitsgruppenserver konkurrieren. Als Abhilfemaßnahme gab die
Kommission Microsoft auf, jedem Unternehmen, das Betriebssysteme für
Arbeitsgruppenserver entwickeln und vertreiben möchte, die "Spezifikationen" ihrer Client-Server- und Server-Server-Kommunikationsprotokolle mitzuteilen. Die Spezifikationen beschreiben bestimmte Merkmale eines Programms und sind daher von dessen "Quellcode" zu unterscheiden, der den vom Computer tatsächlich ausgeführten Datenverarbeitungscode bezeichnet.
Die zweite von der Kommission geahndete Verhaltensweise ist der gekoppelte Verkauf der multimedialen Abspielsoftware Windows Media Player mit dem Betriebssystem Windows. Die Kommission vertritt den Standpunkt, dass diese Praxis den Wettbewerb auf dem Markt für multimediale Abspielsoftware beeinträchtige. Als Abhilfemaßnahme gab die Kommission Microsoft auf, eine Windows-Version ohne den Windows Media Player zum Kauf anzubieten. Microsoft behält jedoch die Möglichkeit, Windows mit dem Windows Media
Player zu vermarkten. Am 7. Juni 2004 hat Microsoft beim Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission erhoben. Am 25. Juni 2004 hat
Microsoft beantragt, die Durchführung der in dieser Entscheidung festgesetzten Abhilfemaßnahmen auszusetzen. Nach Einreichung dieses Antrags hat die Kommission dem Präsidenten des Gerichts erster Instanz mitgeteilt, dass sie die Abhilfemaßnahmen nicht zwangsweise durchsetzen werde, bevor nicht über den Aussetzungsantrag entschieden sei. Die Kommission hat bestätigt, dass Microsoft die Geldbuße gezahlt habe. Nach der Anhörung vom 30. September und 1. Oktober vor dem Präsidenten des Gerichts, in der die Parteien und die als Streithelfer im Verfahren der einstweiligen Anordnung zugelassenen Verfahrensbeteiligten angehört wurden, haben die Computer & Communications Industry Association (CCIA) und Novell ihre Streithilfeanträge zur Unterstützung der Kommission zurückgenommen.
Mit dem heutigen Beschluss weist der Präsident des Gerichts erster Instanz, Bo Vesterdorf, den Antrag von Microsoft auf einstweilige Anordnung zurück.
Nach Prüfung der Umstände des Falles ist der Präsident der Ansicht, dass Microsoft nicht glaubhaft gemacht hat, dass sie Gefahr läuft, aufgrund der Durchführung der angefochtenen Entscheidung einen schweren und irreparablen Schaden zu erleiden. In Bezug auf die Weigerung, Informationen zur Interoperabilität zur Verfügung zu stellen, nimmt der Präsident an, dass das Verfahren zur Hauptsache mehrere grundsätzliche Fragen zu
den Bedingungen aufwirft, unter denen die Kommission den Schluss ziehen darf, dass die verweigerte Preisgabe von Informationen einen gegen Artikel 82 EG verstoßenden Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellt. Der Präsident des Gerichts unterstreicht, dass darüber ausschließlich im Verfahren zur Hauptsache zu befinden ist, und kommt zu dem Schluss, dass die von Microsoft erhobene Nichtigkeitsklage dem ersten Anschein nach nicht
unbegründet ist, so dass die Voraussetzung des Fumus boni iuris (in deren Rahmen geprüft wird, ob die Begründetheit der Klage glaubhaft gemacht ist) erfüllt ist. Allerdings ist nach Auffassung des Präsidenten die Voraussetzung der Dringlichkeit nicht erfüllt, da Microsoft nicht glaubhaft gemacht hat, dass die Preisgabe der bisher geheim gehaltenen Informationen einen schweren und irreparablen Schaden bewirken würde. Nachdem der Präsident die konkreten Folgen der Preisgabe, so wie sie von Microsoft
vorgetragen wurden, in tatsächlicher Hinsicht geprüft hat, stellt er insbesondere fest, dass die Preisgabe einer bisher geheim gehaltenen Information nicht zwangsläufig den Eintritt eines schweren Schadens zur Folge hat und dass angesichts der Umstände des Falles ein solcher Schaden vorliegend nicht nachgewiesen wurde. Auch hat Microsoft nicht nachgewiesen, dass erstens die Nutzung der preisgegebenen Informationen durch ihre Konkurrenten darauf hinausliefe, dass die Information "verschwände", dass zweitens der Verbleib von Konkurrenzprodukten in den Vertriebskanälen nach einer möglichen Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung einen schweren und irreparablen Schaden darstellte, dass drittens die Konkurrenten von Microsoft ihre Produkte "klonen" könnten, dass viertens Microsoft ihre Handelspolitik fundamental umstellen müsste und dass fünftens die
Entscheidung zu einer nicht wieder rückgängig zu machenden Entwicklung des Marktes führte. Was den gekoppelten Verkauf von Windows und Windows Media Player anbelangt, so ist der Präsident zunächst der Auffassung, dass einige Argumente von Microsoft komplexe Fragen aufwerfen, etwa die der auf "mittelbare Netzwirkungen" zurückzuführenden wettbewerbswidrigen Wirkung des gekoppelten Verkaufs, über die das Gericht im Verfahren zur Hauptsache zu befinden hat. Der Präsident kommt zu dem Schluss, dass die
Voraussetzung des Fumus boni iuris erfüllt ist, und prüft sodann die Dringlichkeit der Anordnung der beantragten Aussetzung. Bei der Prüfung der geltend gemachten Schäden in tatsächlicher Hinsicht kommt er zu dem Ergebnis, dass Microsoft nicht konkret glaubhaft gemacht hat, dass sie Gefahr läuft, aufgrund einer Beeinträchtigung ihrer Handelspolitik oder ihres Rufes einen schweren und irreparablen Schaden zu erleiden. Der Antrag von Microsoft auf einstweilige Anordnung wird daher in vollem Umfang
zurückgewiesen.


HINWEIS: Das Gericht erster Instanz wird sein Endurteil in dieser Sache zu einem späteren Zeitpunkt verkünden. Ein Beschluss über einstweilige Anordnungen greift dem Ausgang der Hauptsache nicht vor. Gegen die Entscheidung des Präsidenten des Gerichts kann innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.

PRESSEMITTEILUNG Nr. 103/04 vom 22. Dezember 2004